Nähe und Distanz.
Soziale Ordnungen im Ausstellungprojekt SICHTEN

Von Mira Anneli Naß

Die Vorstellung von der „Fotografie als Fenster“ hat sich tief in ein modernes Bildverständnis eingeschrieben. Dabei bietet die Fotografie als Medium und Gegenstand mitnichten neutrale (Durch)Sichten auf die Welt. „Photographs are not windows which supply a transparent view of the world as it is, or more exactly, as it was”, schreibt Susan Sontag 1987 und betont mit Nachdruck die Problemlage dieser bildtheoretischen Metapher. Fotografie sei vielmehr ein „support of dominant ideologies and existing social arrangements” , was meint, dass jeder Fotografie eine (soziale) Ordnung und Praxis vorausgeht: Stets ist ihr eine Intention oder Haltung der Fotografierenden eingeschrieben. Grund für die dennoch äußerst hartnäckige Rhetorik von der Fotografie als Fenster sind nicht zuletzt Aufnahmen von Fotografiepionieren wie Daguerre, Niépce oder Talbot, deren (fotografischer) Blick durch beziehungsweise auf das Fenster in den Anfangsjahren des jungen Mediums häufig pragmatische Gründe hatte: Mit dem Fensterbrett als Stativ und Brüstung konnten die ersten Aufnahmen trotz langer Belichtungszeiten von Wind und Wetter ungestört entstehen. Darüber hinaus war – und ist – das Fenster für Fotografierende ebenso wie die dahinter liegende (Stadt)Landschaft ein Sujet, das stets zur Verfügung stand.

Für das Ausstellungsprojekt SICHTEN bezieht sich der Bremer Künstler und Kurator Pio Rahner gemeinsam mit neun weiteren Fotograf*innen noch einmal auf jenen tradierten Konnex aus Medium und Motiv. Diese konzeptuelle Schwerpunktsetzung hat jedoch weniger mit einer naiven Idee von Fotografie als Ausblick in und Abbild von Wirklichkeit zu tun. Vielmehr fungiert sie hier als zentraler Aushandlungsort von radikalen soziopolitischen Veränderungen der vergangenen Wochen. Mit zehn über den öffentlichen Raum Bremens verteilten Motiven greift Rahner in diesem innerhalb kürzester Zeit realisierten Projekt Sontags Fotografiebegriff vom Medium als Ausdruck von „social arrangements“ auf: Im Sinne einer zwar transparenten, aber dennoch trennenden Architektur dient das Fenster als Symbol für die gegenwärtige Re-Artikulation eines rigoros transformierten Öffentlichkeitsverständnisses. Denn seit der Covid-19 Pandemie wird Solidarität – und damit reziprok soziale Nähe – zunehmend als physische Distanz verstanden. Das impliziert die grundlegende Neuordnung eines gesellschaftlichen Selbstverständnisses. Im und am Fenster manifestieren sich nun grundlegende Privilegien, Sehnsüchte, Gefahren: Für wen bedeutet Homeoffice vor allem, Brot zu backen und den Keller endlich aufzuräumen? Wer muss in Pflege oder Medizin unter eh schon prekären und nun zusätzlich verschärften Bedingungen malochen? Wer hat keinen schützenden Rückzugsort oder dort nicht die Möglichkeit zur nötigen Distanz? Und für wen bedeutet die Wohnung weniger Sicherheit denn eine Hölle häuslicher Gewalt?

Diese soziale Ambivalenz aus gleichzeitiger Nähe und Distanz versucht das Kunstprojekt SICHTEN im öffentlichen Raum zu visualisieren – und damit auch zur Diskussion zu stellen. Bisher bespielte Pio Rahner mit seinem Ausstellungsraum ERLKÖNIG meist klassische Off-Space-Locations mit zeitgenössischer Kunst. Im Zuge des Shutdowns entschloss er sich jedoch, Fotografie dort zu zeigen, wo Kunst auch unter gegebenen Sicherheitsmaßnahmen barrierefrei zu erfahren ist – auch von jenen, die sich ansonsten weniger mit ihr auseinander setzen: SICHTEN nutzt einen Teil der großformatigen Werbeflächen, wie sie an unzähligen Haltestellen des Bremer Nahverkehrs zu finden sind. Üblicherweise begegnen die Menschen hier einer verdinglichten Fotografie des Warenfetisch. In den vergangenen Wochen wurden jedoch ungültig gewordene Angebote und gestrichene Reisen beworben. Neben „leave noone behind“-Transparenten dominierten sie das Bremische Stadtbild. Nun können Passantinnen die Arbeiten von Björn Behrens, Axel Braun, Anja Engelke, Javier Gastelum, Jana Kölmel, Anne-Lena Michel, Christopher Muller, Stefanie Pluta, Hannah Wolf und Pio Rahner entdecken. Zwar ist jedes Motiv 25 Mal vertreten; ohne Name der Fotografin, Titel der Arbeit und Hinweis auf das Ausstellungsprojekt, verwischt die Grenze zwischen Kunst und Werbung jedoch radikal.

Allen gezeigten Fotografien gemein ist zunächst einmal das den formalen Bedingungen geschuldete Hochformat: Dieses verweist auch auf die Allgegenwart einer öffentlichkeitskonstituierenden Smartphonefotografie. In Zeiten physischer Distanz ermöglichen vor allem soziale Medien als „virtual windows“ einen kontinuierlichen Kontakt, der häufig darauf basiert, rasch gefilmte oder fotografierte Alltagsmomente auszutauschen. Die zehn Fotografien der am Projekt beteiligten Künstler*innen zeigen hauptsächlich einen (fotografischen) Blick, der sich aus dem Wohn- oder Arbeitsraum auf das Fenster oder die dahinter liegende Umwelt richtet. Dieser (Aus)Blick passt zum Homeoffice, das für viele aktuell das Büro ersetzt. Allein Hannah Wolfs Fotografie „Solitär“ (2016) formuliert die Sicht einer Fotografin als Flâneuse. Mit fast kulturwissenschaftlichem Blick tastet sie die Oberfläche von Hausfassaden ab: In Wolfs Aufnahme prallen architektonische wie gesellschaftliche und historische Schichten aufeinander. Flankiert von einem postmodernen Gebäude und einer sozialistischen Wohnkaserne steht eine Bauruine im Zentrum. Bis auf die dunklen Umrisse einer Person im Bildmittelpunkt ist diese Farbfotografie so menschenleer wie die restlichen Aufnahmen. Lediglich Jana Kölmel greift in ihrer Fotografie mit dem Titel „Frau am Fenster“ (2020) eine klassische zentrale Rückenansicht auf, mit der sie auch Bezug auf die Rückenfiguren von Caspar David Friedrich nimmt. So referiert sie auf die utopischen oder dystopischen Ausblicke romantischer Gemälde. Sie wiederholt aber auch das tradierte Narrativ des Innenraums als weiblicher Sphäre – und betont so vielleicht, dass es in der aktuellen Krise wiederum Frauen sind, die den Großteil an Care- und Hausarbeit leisten und damit in längst überholt geglaubte Geschlechterrollen (zurück)gedrängt werden.

Anja Engelkes Aufnahme entpuppt sich dagegen als Aussicht auf eine Tapete, an der Blicke nur abprallen können: Als Reminiszenz an eine Fotografie Stephen Shores baute sie sich einen weiteren Raum innerhalb ihre Wohnung, aus dessen Fenster sie heraus fotografierte – um dabei doch wieder nur in einem weiteren Wohnraum zu landen. Überraschenderweise sträubt sich ein Großteil der Fotografien gerade gegen einen vermeintlich romantischen Ausblick. Die Künstlerinnen wenden sich damit auch gegen eine (privilegierte) Verklärung der aktuellen Krisensituation. Der Kölner Fotograf Javier Gastelum lässt die Betrachterinnen in ihrer Erwartungshaltung auflaufen: Er schneidet seinen Fensterausblick lediglich an. Anstelle einer besonderen Aussicht zeigt seine schwarz-weiße Aufnahme „A.N.N“ (2020) vor allem einen unscharfen Fensterrahmen, der wenig besonders ist. Dem idyllischen Fenster(aus)blick verweigert sich auch der Düsseldorfer Fotograf Christopher Muller: Dessen stimmungsvolle, in ein weißes Passepartout gefasste Komposition „Nachts“ (2020), fokussiert einen hell erleuchteten runden Esstisch, auf dem ein Strauß bunter Tulpen steht. Die nächtliche Glasfront im Hintergrund wirft den Blick von Fotograf, Kamera und Betrachterin unnachgiebig zurück. Björn Behrens Fotografie „Based on Truth III 12“ (2020) liegt dagegen selbst im Dunkeln. Die Langzeitbelichtung lässt allein in der untere Bildhälfte ein schwach erleuchtetes Fensterkreuz erahnen, das aufgrund einer Notausgangsbeleuchtung als einziger Lichtquelle in der Nacht grün schimmert.

Häufig ermöglicht das Motiv des Fensters den Betrachtenden, perspektivisch in das Bild einzudringen. Dieses Spiel mit der Wahrnehmung nutzten bereits die Maler*innen der Renaissance, um ihren Werken eine dreidimensionale Räumlichkeit zu verleihen. Stefanie Pluta und Anne-Lena Michels nivellieren dagegen solch potenzielle Bildebenen. Sie präsentieren ein vielmehr abstrakte, konstruktivistische Formensprache. Damit betonen sie die Zweidimensionalität der Fotografie(n). Plutas „Tape Studies“ (2019) fokussiert die gliedernde Struktur einer von Klebeband durchzogenen Milchglasfront. Die architektonische Bildsprache fügt sich fast mimetisch in die umgebenden Haltestellengestaltung ein. Wie eine abstrakte Flächenstudie wirkt auch Michels Farbkomposition „Das Glück liegt auf der Straße – Berlin, April, 2020“ (2020). Eine Schere und ein Geodreieck sind hier mit Tesafilm auf das Fensterglas geklebt, der Boden einer Weinflasche ragt in den Bildausschnitt. Die Gegenstände verwandeln den Ausblick auf eine gegenüberliegenden Hausfassade in eine abstrakte Assemblage.

Zwei Fotografien von Pio Rahner und Axel Braun runden den motivischen Korpus ab: Rahners Schwarzweißaufnahme „Patenschaften und Gooz“ (2019) zeigt kahle Platanen und den Bremer Teerhof: Es ist der Blick des Fotografen aus seinem Atelier im Bremer Künstler(*innen)haus. Brauns Farbfotografie „Denn es gibt den Fortschritt“ (2011) fokussiert den Ausblick durch eine Glasfront, an der ein Schwarm gelber und roter Schwalbenformen klebt. Als (Ab)Bilder eines aufeinander angewiesenen Kollektivs erinnern sie uns daran, dass Gesellschaft sich gegenwärtig weniger über körperliche Nähe denn über eine abstraktere Vorstellung von Solidarität äußert.

Das Ausstellungsprojekt SICHTEN ist Produkt der Idee, Kunst dort zu zeigen, wo sie während einer globalen Pandemie am einfachsten zu erleben ist und am dringendsten benötigt wird: unter freiem Himmel, im öffentlichen Stadtraum. Die Qualität des Projekts liegt weniger darin, durch als vielmehr auf das Fenster zu schauen. Dringlich wagt es den Versuch, mit den Mitteln der Fotografie eine unmittelbare Auseinandersetzung mit einer Form von Öffentlichkeit anzustoßen, die ihr Innen und Außen gerade neu verhandeln muss.